Sie sind hier: Willkommen » Schmalspur » Döbeln-Lommatzsch » Eine Fahrt anno 1964

Eine Fahrt anno 1964

Der Rübenzug (Reiner Scheffler)

... Wollen wir nun in Richtung Lommatzsch einen Güterzug begleiten.

Teil 1

Soeben wurde dieser auf dem Nordbahnhof (Anm.d.Verf.: Bhf. Döbeln-Nord) bereitgestellt. Seine 100m lange Wagenschlange hat er zuvor aus der Zuckerfabrik geholt. Welch Anblick! Rauchkräuselnd und nahezu stumm, unsere frisch mit Wasser und Kohle versorgte Lokomotive. Als 99 600 wird sie mit ihren vorn und seitlich angebrachten, dicken Messingziffern bezeichnet.

Während der Zugführer die Wagennummern und deren Ladung und Laufziel notiert, kommt der Rangierschaffner mit einer Anzahl von Bremsleinen, die er auf die einzelnen Wagen verteilt. Jawohl, unsere Schmalspurbahnen wurden mit Hilfe von Hanf- oder Perlonleinen gebremst. Wie das funktioniert?

Nun die Leinen waren in bestimmte Längen geteilt und besaßen an ihren Enden eiserne Hakenösen, mit denen sie verbunden werden konnten. Diese Leinen wurden von Wagen zu Wagen durch die Führungsrollen der Bremsantriebe gefädelt und an einer speziellen Haltevorrichtung des letzten Wagens befestigt. Auf dem Führerstand der Lok befand sich eine zweigeteilte Leinenhaspel, wo mit Hilfe einer Kurbel vom Lokführer das Seil aufgerollt und somit gespannt wurde. Bei den Fahrzeugen war damit die Bremse gelöst. Sollte nun gebremst werden, so musste der Lokführer die auf der Kurbelrolle gestraffte Leine durch eine kurze Linksbewegung wieder lösen. Das nun gelockerte Seil bewirkte bei den Bremseinrichtungen das Senken eines Bremsgewichtes. Dadurch presste sich eine Reibungsrolle auf eine an der Radachse befestigte Achsrolle und erreichte über die Bremsbacken der Räder den Bremsvorgang.

Bei den ersten vier gedeckten Wagen muss der Schaffner auf die Dächer, bei den darauffolgenden, leeren Rübenwagen springt er von Bordwand zu Bordwand. Eine zeitraubende und auch gefährliche Angelegenheit, vor allem im Winter, wenn durch Eis und Schnee die Leinen zu starren Drähten wurden und nur unter Aufbietung beachtlicher Kraft und Geschicklichkeit gespannt werden konnten.

Wir sind abfahrbereit! 52 Achsen, 115 Tonnen Last, absetzen in Mochau und Kleinmockritz, aufnehmen in Kleinmockritz und Lossen - so lauten die Worte des Zugführers an den Lokführer. Ein Achtungspfiff als Zeichen für die Aufsicht und bald darauf "grüßt" die von Hand gehobene Kelle als Zeichen zur Abfahrt zu uns herüber.

Teil 2

Ausfahrt Döbeln-Nord. Die zwei- und vierachsigen Wagen klappern über den Übergang. Aus der kurz zuvor im Stande noch stummen Lokomotive ist ein aus allen Fugen dampfendes und fauchendes Maschinentier geworden. Erster Halt in Gärtitz. "Was, ein Rollfahrzeug mit Regelspurwagen nach Kleemockersch?" "Nee, wir sind voll bis zum Stehkragen", schreit der Zugführer zum dicken Aufsichter hinüber.

Wir schwenken ins Lommatzscher Gleis. Gegenüber der noch auf einigen hundert Metern benachbarten Mügelner Schiene ist unsere, einst am 25. November 1911 eröffnete Strecke um 27 Jahre jünger. Nun geht's bergauf, dann ein Gleisschwenk in östliche Richtung und unter uns die regelspurige R-C-Linie. Nur Zufall war's, wenn sich unten die Hauptbahn mit der oberen Kleinbahn traf, nur die schwarz-weiß gefleckten Kühe waren bis zum Oktober hinein die ständigen Zaungäste im Wiesenterrain.

Nach der Zschaitzer Straße noch einige Feldwindungen und wir sind auf der Simselwitzer Höh', rundum grüßen die Kirchenspitzen der Dörfer. Pfeifend und und quietschend schlängelt sich der lange Zug durchs kleine Dorf Simselwitz.

Erster Rangierhalt in Mochau. Zwei der mit getrockneten Rübenschnitzeln beladenen Wagen und vier der leeren Loren werden aufs Ladegleis gebracht. Welch bitter-süßlicher Geruch dringt aus der in Säcken verpackten Ladung. Runter die Bremsleinen von den Fahrzeugen. Für die Bauern waren die langen und festen Seile begehrte Kälberstricke. Auch zum Befestigen von Planen und Ladungen eigneten sie sich ideal.

Als unser Zug nach sechs Minuten die Räder bewegt, ist er um ein beachtliches Stück kürzer geworden. Jetzt läufts glatte zwei Kilometer nach Kleinmockritz... . Langgezogen und grell tönt der Pfiff durch Feld- und Wiesenfluren, denn der Straßenbetrieb auf der "Ostrau-Nossener" ist im Herbst erheblich geworden. "Leine locker", man hört das Pressen der Bremsbacken, ein fester Ruck und wir sind in Kleinmockritz.

Teil 3

Zwischen Döbeln und Lommatzsch ist die Station Kleinmockritz die größte Güterladestelle. Drei Gleise, sieben Weichen, ein Anschluss zum alten Kornhaus (BHG), eine Wartehalle und mehrere Wagenkästen sowie eine Seitenrampe gehören zum Inventar. Als Kuriosum ein 19 Meter tiefer Wasserbrunnen. 23 Minuten stehen dem Zug für seine aufwendigen Rangierarbeiten zur Verfügung.

Ob es vor geht oder zurück, ob der Lokführer nur mal aufdrücken oder halten soll, alles regelt der Schaffner mit Hand- oder Pfeifzeichen. Eine gute Verständigung und ein feines Bremsgefühl zeichnen dabei den einen als auch die beiden anderen auf der Lok aus.

Unser Zug ist wieder unterwegs. Trotz vieler Windungen, der Schienenstrang verläuft jetzt nördlicher als bisher. Beicha wird durchfahren. Drei kleine Zweiachser werden mit Rüben beladen. Richtige Dreiecke bilden die klobigen Gewächse, so hoch werden die Fünftonner beladen. Nach Beicha verlassen wir das Döbelner Kreisgebiet. Die jetzt befahrene "echt Lommatzscher Pflege" gehört zum Meißner Land. Einfahrt in Lossen. Kaum hält unser Zug und schon ist Arno zur Stelle und gibt erste Anweisungen an das Personal.

Ja - zuverlässig sind sie alle gewesen, diese kleinen Bahnvermittler auf den Haltestellen ihrer Strecken. Arno ist der älteste - seit 1927 hält er als Agent der Bahn die Treue. Schnell sind die restlichen Wagen abgesetzt und auch zwei wieder aufgenommen. "Leine fertig" ruft der Schaffner und schon rasselt die Bremskurbel auf der Lok. Eine Hand gibt ein Zeichen, ein Pfiff und mit einem kräftigen Ruck setzt sich der nun nur noch kleine Zug in Bewegung, seinem Endziel Lommatzsch entgegen.

Seit dreißig Jahren ist diese Schilderung Vergangenheit. Für viele Jahrzehnte hatten diese beiden Schmalspurstrecken im "Döbelner Land" die Aufgabe, eine Verbindung vom abseits gelegenen Dorf -, seine Bewohner und Produkte zur Kreisstadt zu schaffen. Sie hat diese Pflicht treu erfüllt - vergessen wir deshalb dieses Bahnerl nicht !

Mit freundlicher Genehmigung von Reiner Scheffler, Oschatz

veröffentlicht im Döbelner Anzeiger (1994)